Statt des Kommentars zur Gemeindeversammlung vom 12. Juni 2015
Auch diese Gemeindeversammlung habe ich nicht besucht. Ich besuchte dafür die EXPO Milano 2015, motiviert durch eine weitbekannte Valserin, die die Umgebung des Schweizer Pavillons gestaltet hatte und mir auch den Besuch des österreichischen Pavillons empfahl. Das Thema der Weltausstellung:
Den Planeten ernähren, Energie für das Leben
Weltausstellung? – Was ist das? Und es geht ums Essen – eine Gelegenheit, sich ein Bild zu verschaffen, was zum Essen ausgestellt wird und was es zu essen gibt. Schliesslich ergibt sich eine für mich völlig unerwartete und erfreuliche Begegnung. Über diese Dinge berichte ich hier.
Milano Stazione Centrale. Metro M1 nach Rho. Via einer langen überdeckten Rampe und Brücke zum Ausstellungsgelände. Durch die Eingangskontrolle. Über den Wassergraben zum Boulevard, an dem sich links und rechts die Pavillons reihen. Stracks zur Nummer 102, dem Schweizer Pavillon. Er sieht aus wie ein mehrstöckiger Beton-Glasbau mit Flachdach aus den Fünzigerjahren; ein Bau, wie man ihn beispielsweise in Olten oder Yverdon findet. Passend. Wohltuende Normalität. Keine bemühende Originalität, wie sie die meisten übrigen Bauten zu verströmen suchen. Ce n’é per tutti?1 steht in geschwungenen Lettern auf der Fassade. Allerdings lässt sich diese Frage nicht schnell beantworten, denn die Warteschlange vor den «Türmen» ist lang.
So sitze ich unter Birkenbäumchen, die aus dem Kiesgrund ragen, und warte im Raclette-Rauch der Walliser auf Einlass in die Türme. Ein Besuchsfenster, sagt man mir, sei erst wieder um 18 Uhr frei.
Das dauert mir zu lange. Also los, quer über den Boulevard auf die andere Seite zum Pavillon von Österreich. Im Sprühregen am Eingangsbereich vorbei, geht’s zügig in den Wald, der hier eigens für die Expo angelegt wurde.. Und siehe da: Tatsächlich kriecht vor mir eine lebendige orangefarbene Nacktschnecke unter dem Laub hervor. Meines Erachtens hat der Pavillon allerdings wenig mit Nahrung zu tun. Aber dass mittels Photosynthese der Waldbäume das giftige CO2 in saubere Luft umgewandelt wird, ist unbestritten. Zu essen gäbe es hier einen Waldbeerenstrudel. Ich verzichte. Vielleicht haben die Sudanesen Unbekannteres im kulinarischen Angebot. Zu ihnen geht’s ein gutes Stück auf dem Boulevard zurück.
Der Boulevard? Eine eineinhalb Kilometer lange, von grossen Rechteck-Segeln überspannte Flanierzone mit vielen Sitzgelegenheiten. Am heutigen tristen Regentag bleiben diese nicht alle trocken. Wasser stürzt zwischen den Segeln oder an den Aufhänge-Vorrichtungen herunter. Doch insgesamt schützen uns die Segel wirksam vor Nässe. Trotz des Regens sind wohl zehntausend BesucherInnen hier unterwegs.
Ich esse Pizza und trinke San Pellegrino im Schnellimbiss eines Service-Centers. Service Centers sind lange, einstöckige Holzbauten, bei denen es auch Picknick-Zonen, Erste Hilfe und WCs gibt. Von Letzteren sind rund ein Dutzend innerhalb des Ausstellungsgeländes verteilt. Im ockerfarbenen Lehmgebäude der Sudanesen hat mich weniger das schlichte Kebab-Angebot, sondern die desinteressierte und unkonzentrierte Kassiererin vom Verweilen abgehalten.
Das Essen: Es gibt insgesamt eine schier kaum zu überblickende Auswahl! Die Aussteller sind allesamt stolz, das anzubieten, was für sie als typisch gilt. Du weisst es, liebe Leserin, lieber Leser: Was isst die Bevölkerung von Ungarn? Richtig, Gulaschsuppe. Was essen die AmerikanerInnen? Steak. Und die MarokkanerInnen? Couscous. Die Angolaner trinken Baobab-Saft (das wusste ich allerdings nicht). Und so weiter. Vieles gibt es in drei Preisklassen. Die günstigste ist «Streetfood», die teuerste das Restaurant mit Bedienung an weiss-gedeckten Tischen. Die mittlere Variante ist die häufigste und beliebteste. Man wählt Speisen und Getränke (dabei helfen Fotos), bezahlt an der Kasse, erhält einen Bon und wartet, bis man aufgerufen wird. Dann sucht man sich einen freien Tischplatz, balanciert das Tablett mit dem Plastikgeschirr, -becher und -besteck, behält den Neigungswinkel des Servierbretts im Auge und macht vorsichtig kurze Schritte. Nicht gerade entspannt. Denn sowohl beim Bestellen als auch beim Bezahlen gilt dasselbe wie beim Warten und Suchen nach einem freien Platz: Man ist nicht alleine. Es herrscht immer ein Gedränge.
So mampfe ich an meinem Stück Pizza und höre hinter mir eine Stimme, die mir ferne bekannt klingt. «Mon vieux…» Wer spricht dieses westafrikanische Französisch? Jetzt ist es klar. Ich drehe mich um und erkenne ihn sofort, den hageren Soziologen mit dem hervorstehenden Schneidezahn rechts oben. Es ist Dangui Sissoko. Sein Haupthaar ist inzwischen weiss, und die stets krausen Schnauzhaare und die Augenbrauen sind es auch. Doch mager ist er nach wie vor, und sein verschmitzter Gesichtsausdruck, die fiebrig glänzenden Augen sowie seine schlaksig-eleganten Bewegungen prägen seine Erscheinung wie damals. «Salut, mon vieux!», begrüsse ich ihn. Er stutzt, schaut verdutzt, sagt dann: «Nein, das ist unmöglich!» Und wir liegen uns in den Armen. Dangui Sissoko, 1974, im malischen Amt für Vieh und Fleisch1 für die zahlreichen in der Branche beschäftigten Berufsgruppen zuständig, vom Peulh-Hirten bis zum Grossmetzger und Fleischverkäufer. Er kämpfte mit wenig Erfolg darum, den Beschäftigten Berufsausweise schmackhaft zu machen. Professionalisierung war das Stichwort. Ich war als junger Sozioökonom zuunterst in der Projekthierarchie, anfänglich mit der Viehmarktstatistik beschäftigt, später mit Erhebungen zum Konsum tierischer Eiweisse. Lange Abende haben Dangui und ich diskutiert über Folgen des Kolonialismus, Dependenz und Trikont2.
Aber auch über malische Herrschaftsverhältnisse3 oder jene am Arbeitsplatz, die wir als stossend empfanden und am eigenen Leib erfuhren. Jetzt sitzen wir an der Expo und reden über dies und das. «Bist du noch der kritische Geist von damals?», fragt er mich unvermittelt. «Denn dann können wir uns über diese Weltausstellung unterhalten.»
Dangui meint, die ganze Ausstellung sei ein Gemisch von nationalistischer Leistungsschau und Selbstdarstellung mit einigen – leider zu wenigen – weiterführenden Überlegungen zur Unter- und Überernährung der Menschheit. In mehreren Länderpavillons würden farbige Trachten ausgestellt und plumpe Tourismuswerbung betrieben. Dafür brauche es wirklich keine Weltausstellung! In gewissen Pavillons mache sich der Bock zum Gärtner. Nahrungsmultis und Agroindustrie würden sich aufblasen und als Menschenretter präsentieren. 170 Jahre im Dienst der Menschheit, so behaupte Nestlé im Schweizer Pavillon. Vor einigen Jahrzehnten habe der Konzern den Müttern noch das Stillen abgewöhnen wollen, um ihnen Nestlé-Babynahrung anzudrehen. Dangui betont: Mit mehr Recht könnten Bauern und Bäuerinnen in Koulikoro von sich behaupten, schon 10’000 Jahre im Dienste der lokalen Bevölkerung zu stehen. Denn so alt sei aufgrund der letzten archäologischen Funde die am Ufer des Niger gelegene dortige Agri-Kultur. Und täglich werde gesät, gehackt, gespeichert, gestampft sowie gekocht. Doch die Anmassung im Stil von erwähnten Nestlé-Verlautbarungen würde ihnen nicht im Traum einfallen. In vielen Länderpavillons behaupteten die Ausstellungsmacher kühn, innovativ in der Forschung und weltweit führend in der Lebensmittelproduktion zu sein. Alle diese Akteure würden sich angesichts der übermächtigen Aufgabe sehr besorgt zeigen, die in naher Zukunft auf neun Milliarden Menschen anwachsende Weltbevölkerung ernähren zu müssen. Bei der Frage, wie sie das anpacken wollten, blieben sie jedoch konkrete Antworten schuldig.
Dangui zieht mich zum Pavillon Zero der UNO. – Ein lateinischer Spruch auf der Fassade besagt, die Erde atme Göttliches. Der Eingangsraum ist dunkel und weist eine beträchtliche Höhe auf. Wandsäulen und drei imposante Tore, die durch eine massive Wand in den nächsten Raum führen. Ausserdem befindet sich über den Toren eine Balustrade und, hoch oben, schauen überlebensgrosse Marmorstatuen herunter – man denkt unweigerlich an eine Kathedrale. Doch in der Wand sind Hunderte von Schubladen eingelassen, die auch an eine alte Apotheke erinnern. Das Konzept, eine spirituelle Stimmung zu erzeugen, gelingt. Geht man durch eines der Tore, steht man in einer mächtigen dunklen Halle. Ihre ganze
Rückseite bildet eine gewaltige Projektionsfläche, auf der gerade ein Film über den schlichten und geordneten Alltag eines Buben, Schafhirte im Aostatal, gezeigt wird. Kinderarbeit als Selbstverständlichkeit. Unkompliziert, natürlich, notwendig und in die Dorfgemeinschaft eingebettet. Nur aus heutiger Perspektive können wir uns die vorindustrielle alpine Welt auf solch friedliche Art vorstellen.
Der Pavillon Zero ist ein sakraler Sinnstifter. Er präsentiert uns eine Geschichte der Nahrungsmittelproduktion vom schlichten Überlebenskampf steinzeitlicher Gemeinschaften bis zur heutigen industriellen und agrochemischen Massenproduktion. Verschleuderung von Nahrungsmitteln, Abfallproduktion sowie massiver Energieeinsatz werden kritisch dargestellt. Es wird an die Verantwortung für den Planeten appelliert und an die lösbare Aufgabe erinnert, den weltweiten Hunger endgültig zu besiegen.
«Komm», sagt Dangui, «wir besuchen die Slow Food-Leute.» Der einfache Holzpavillon liegt am Ende des Boulevards, und die wenigen Besucher hören sich gerade eine Videobotschaft zum Thema an. Der Ton ist besonnen, die Botschaft eindringlich. Es geht um «gutes, sauberes und fair produziertes Essen» als ein Menschenrecht. Die 1989 entstandene zivilgesellschaftliche Bewegung setzt sich für Biodiversität ein und empfiehlt zudem, sich in lokalen Gemeinschaften – so genannten «Convivien» – zu organisieren, innerhalb derer es darum geht, zusammen die «Revolution zu kochen».
Das findet Dangui in Ordnung, aber doch etwas zu randständig.
Wir sind sowohl müde als auch hungrig und schlendern zum wellenförmig geschwungenen Holzbau des französischen Pavillons. Vor dem Eingang durchqueren wir ein wogendes Getreidefeld. Wir begeben uns zum Café des Chefs, wo «französische Spitzenköche zu annehmbaren Preisen kochen», wie es am Eingang bei der Treppe zum ersten Stock heisst. Unsere Kellnerin, eine Mailänder Studentin mit akzentfreiem Französisch, streckt uns ein Samsung-Tablet zu, auf dem wir die Speisekarte finden und unsere Bestellung eingeben.
Zuerst gibt es als Apéro ein Glas nach Zitrone duftenden beziehungsweise schmeckenden Elsässer Riesling mit leichter Petrolnote, um, wie die Studentin rät, die Magensäfte zu aktivieren. Dangui hat Lust auf die Apfelpaste mit warmem Ziegenkäse, ich schwanke zwischen der überbackenen Zwiebelsuppe und der provenzalischen Gemüsecreme als Entrée, entscheide mich dann für Letztere. Das Hors d’oeuvre beinhaltet eine leichte Terrine mit Seelachs, Tomaten und Olivenöl sowie ein Dreieck Quiche Lorraine. Dazu trinken wir einen hellen purpurroten Fleurie, weich und fruchtbetont im Auftakt. Wir wechseln zum gehaltvollen Côtes du Ventoux, der ausgezeichnet zum Hauptgericht passt, nämlich zum Coq au vin und Muscheltopf mit Sardellenbutter. Jetzt wäre ein strohfarbener Muscat de Lunel mit elegantem, blumigem Aroma richtig, bevor man zum süssen Nachtisch komme, meint die Studentin. Richtig. Doch die Crème brulée, welche uns die junge Kellnerin zum Dessert anpreist, schlagen wir aus und entscheiden uns für Zitronentartelettes, eine Ricotta-Nuss-Crèpe mit Johannisbeeren sowie etwas Nougat de Montélimar. Es gibt eine Pause, die wir nutzen, um ein Gläschen bernsteinfarbenen Calvados zu probieren, bevor es mit der abrundenden Käseplatte weitergeht. Bleu d’Auvergne (Blauschimmel), Crottin de Chavignol (Weichkäse), Brie, Reblochon und ein harter Beaufort liegen auf dem Käsebrett. Nur ein charaktervoller, komplexer Vin Jaune du Jura passt dazu. Die Studentin nickt anerkennend.
Bei uns ist die Stimmung inzwischen sehr gut. Aber auch an den anderen Tischen geht es hoch zu. Es wird gelacht und gesungen. Gerade singt eine Gruppe Männer eine anzügliche Version von «Au clair de la lune» und weiter hinten wird an einem Tisch die Marseillaise angestimmt. «Wartet, das kann ich auch!», ruft Dangui, steigt schwankend auf den Stuhl – die Studentin und ich halten ihn – und er singt eine Strophe der malischen Nationalhymne. Ich summe mit. «Jetzt bist du dran», sagt mir die Studentin. Ich stehe auf, halte mich an der Tischkante fest, fixiere die Kaffeemaschine hinter der Theke und singe ein gefühlvolles:
Ich nime no’n Campari Soda
Wiit unter mer liit s’Wolkemeer
De Väntilator summet liislig
Es isch als gäbs mich nüme mee 4
Dass es im Restaurant bei meinem Vortrag andächtig still geworden wäre, kann ich nicht behaupten. Aber die Studentin hat eine Träne in den Augen. «Das war jetzt sehr romantisch.»
Zum Schluss, liebe Leserin, geschätzter Leser, eine Frage, die ihr nicht beantworten könnt: Wo und wann fand die letzte Weltausstellung statt? Es war 2012 in Yeosu, Südkorea. Die Wiki-Information zu den Weltausstellungen wirkt ernüchternd und nimmt diesen Anlässen etwas von der vermeintlichen Exklusivität. Seit 1851 gibt es sie. Von 1900 bis heute fanden 65 Weltausstellungen statt. Jene von Shanghai, 2010, zählte 73 Millionen Eintritte, bisher ein Rekord.
Nicht immer schafft das Weltausstellen
gehaltvolle Inspirationsquellen …
Jean-Pierre Wolf – 150617
Das hier Veröffentlichte entspricht der Meinung des Autors und deckt sich nicht notwendigerweise mit der Meinung des Vorstands und Vereins.