Tim Krohn:
Mit Beginn der Finanzkrise war Marcs Institut dazu übergegangen, Schnapszahlengeburtstage zu feiern anstatt der runden, denn so wurde nur noch alle elf Jahre die Geburtstags-Gratifikation fällig. Das war Marc recht, sein Dreissigster hatte noch in der Börsenhausse gelegen und ihm drei Monatsgehälter eingebracht, er rechnete sich also doppelten Gewinn aus. Als er zum Dreiunddreissigsten statt einer Überweisung nur einen Hotelgutschein bekam, fürchtete er erst, das Management wolle ihn abstrafen, er hatte einen kleinen Schweissausbruch und fragte sich, was von seinen missglückten „Experimenten“ mit einigen Kundenvermögen durchgesickert sein mochte. Doch sein Abteilungschef erklärte, dass Marc mit dem dreitägigen Wellnessaufenthalt noch überkotiert sei, das Standardgeschenk für Mitarbeiter, die bereits einen runden Geburtstag hatten feiern können, bestand in einem Wochenend-Skipass in Engelberg mit einem Zimmer der Touristenklasse.
Es war allgemein bekannt, dass die Frau, mit der Marc Bett und Wohnung teilte (nicht das Konto), seit sechs Monaten im Stammhaus in New York arbeitete, sie war im Begriff, die Karriereleiter hinaufzufallen, und hatte bestimmt keine Zeit, mit ihm zu feiern. In solchen Fällen lief zwischen den Single-Frauen der Finanz-Abteilungen ein Wettbewerb, wer zur Begleitung erkoren würde. Nicht, dass jede bereit gewesen wäre, mit jedem ins Bett zu steigen. In erster Linie zählte es, gefragt zu werden, Reisen und Bälle waren Gelegenheiten, die Hackordnung neu zu bestimmen. Marc wusste von Deals zwischen Alphatieren im Institut, Männlein und Weiblein, die miteinander ganze Ferien verbracht hatten, ohne dass das Geringste zwischen ihnen lief, doch imagemässig hatten beide Punkte gut gemacht. Marc wählte Frauen, mit denen er auch eine Bettgeschichte haben konnte. Das schmälerte seine Auswahl kaum, denn er sah gut aus (mehr als gut, er war das, was im Institut unter dem Label „Schnittchen“ lief), zudem war er unkompliziert sowohl im Bett als auch darin, die Sache wieder zu beenden. Marc war als sogenannter „Casual“ sehr gefragt.
Dass er seinen Geburtstag ohne Check feiern sollte, hatte ihm allerdings einen Stich versetzt, und er spürte nicht übel Lust, dem Saftladen ein Schnippchen zu schlagen. Anstatt bei einer der Primadonnen anzuklopfen – bei Sue, einer Backend-Applikations-Entwicklerin mit fast biblischen Massen, die schon zweiunddreissig war, doch längst nicht über den Zenith, eher reifend wie ein guter Wein, oder der Neuen, Britta, einer Investment Compliance Analyst mit recht bäuerischem Körperbau, dafür einem fast beängstigenden Elan, Anfang zwanzig, in Marcs Worten eine „Kate Winslet der Finanzwelt“ –, ging er geradewegs ins Kellergeschoss, wo die Buchhaltung und die Übersetzerinnen untergebracht waren. Der Keller galt für die oberen Abteilungen als „Notlager“, was Sex betraf, Marc war sich dessen sehr bewusst. Das Mädchen, das er ansprach, disqualifizierte sich zusätzlich dadurch, dass es einen Kleiderstil pflegte, den er einige Tage zuvor als „Ostblock“ definiert hatte: Rüschenblusen, Lackschuhe, Haarreif, lila Nagellack. Davon abgesehen war Slavka durchaus hübsch, nur eben, von solchen Dingen konnte man nicht absehen, und Marc fragte sie allein aus einer brachialen Laune heraus, in einem Akt der Anarchie. Er wollte Dampf ablassen, die anderen reizen, er wollte sich demonstrativ so unmöglich machen, wie sich das Institut in seinen Augen unmöglich gemacht hatte, indem es ihn zu seinem Schnapszahlengeburtstag mit einem Wellnessangebot abspeiste.
Er war nicht in der Laune für Finessen, so pflanzte er sich direkt vor dem Tischlein auf, das offenbar ihr Arbeitsplatz war, und sagte: „Hi, ich heisse Marc – falls du das noch nicht wissen solltest. Das Management schickt mich für ein paar Tage in die Wüste, beziehungsweise in die Berge, in so ein Bad, und ich fände es passend, dass du mich begleitest.“
Er hatte erwartet, dass Slavka rot anlief, stotterte oder sonstwie die Fassung verlor, doch so war es nicht. Sie schien nur etwas überrascht, musterte ihn einige Sekunden lang, dann stand sie auf und reichte ihm die Hand. „Slavka“ sagte sie, nach kurzem Zögern beugte sie sich vor und gab ihm ausserdem zwei Küsschen. Dann setzte sie sich wieder. „Sehr gern“, sagte sie und zückte eine klitzekleine Plastik-Agenda. „Wann denn? Nicht über Ostern, denn da fahre ich heim.“
„Möglichst bald“, sagte Marc, der seinerseits nun leicht verwirrt war, „bringen wir es hinter uns.“
„Bald fände ich schön“, antwortete Slavka und sah wieder auf. „Ich freue mich, ich war in der Schweiz noch nie in den Bergen.“
„Dann ist ja gut“, murmelte Marc.
Nachdem sie sich auf das nächste Wochenende geeinigt hatten, nahm er den Lift nach oben. Der erhoffte Knalleffekt, die bizarre Szene, die er so liebend gern heraufbeschworen hätte, war ausgeblieben – und er hatte alles andere als souverän gewirkt. Vielleicht war das Wellnessangebot ein Wink mit dem Zaunpfahl, vielleicht war er tatsächlich nicht mehr auf der Höhe und brauchte eine Auszeit. Seine Aktion wirkte, rückblickend betrachtet, auf ihn selber etwas krank, und einige Tage lang spielte er mit dem Gedanken, Slavka wegen Unpässlichkeit abzusagen. Er könnte ihr anbieten, mit jemandem aus ihrer Hierarchiestufe zu fahren, einem älteren, geschiedenen Buchhalter oder einem der drahtigen Maghrebiner aus dem Reinigungsdienst. Doch natürlich würden das die anderen als offenes Eingeständnis seines Scheiterns lesen. Es half nichts, er musste diese Sache durchziehen und so tun, als wäre sie ein voller Erfolg. „Was zum Teufel“, sollten sich die anderen fragen, „heckt er da nur Mysteriöses aus?“
Wie vereinbart holte er Slavka am Freitagmittag ab. Sie sah nicht schlecht aus, wie sie in einem schwarzen Ski-Anzug aus Rippstoff an der Strassenecke wartete, fast wie eines jener Starlets in Clark-Gable-Filmen. Sie trug nur eine kleine Ziegenleder-Tasche mit sich, keinen Koffer, nichts Sperriges, und sie roch gut, nach etwas ganz Unprätentiösem – Frühlingsblumen, einem Hauch von Sonne auf Heu –, ganz anders als seine üblichen Frauen, die komplexe, synthetische Parfums bevorzugten. Mit verwundertem Lachen sank sie in den tiefer gelegten Beifahrersitz seines Mercedes. „Kann man darin nur liegen oder auch sitzen?“, fragte sie und wollte sich nicht anschnallen, ehe er ihr nicht eine Decke und seine Jacke untergeschoben sowie die Lehne maximal aufrecht gestellt hatte. So hockte sie die kommenden zweieinhalb Stunden wie auf einem Traktor und betrachtete mit unermüdlicher Neugierde die Landschaft. Manchmal sprach sie ein wenig zu sich selbst, manchmal wies sie ihn auf etwas hin, doch nie rechnete sie damit, dass er ihr Antwort gab, und Marc war das mehr als recht, denn er hatte keine Ahnung, was man zu einem solchen Menschen sprach. Neben Slavka fühlte er sich wie ein Kind auf Schulausflug – und er genoss es sonderbarerweise.
Das Hotelzimmer war nach seinem Geschmack: sec, designt, klassisch. Etwas grösser hätte er es sich gewünscht, dann wäre es perfekt gewesen. Slavka schien die Einrichtung kaum wahrzunehmen, sie steuerte sofort auf den Balkon, liess sich auf die Liege fallen, blinzelte in die Sonne und rief: „Hier bringst du mich nie mehr weg!“ Doch schon im nächsten Augenblick sprang sie auf, umschlang ihn lachend und drängte ihn ins Zimmer zurück. „Schuhe aus“, befahl sie und wartete ungeduldig, bis Marc sie abgestreift hatte, dann stiess ihn aufs Bett und begann, ihn von den Socken aufwärts auszuziehen. Marc liess sie machen, er betrachtete die Zimmerdecke, bis sie seinen Penis in den Mund genommen hatte – „wollen wir doch mal sehen, wie weit sie geht“, hatte er gedacht –, dann übernahm er wieder die Kontrolle. Er erhob sich, warf ihr einen Bademantel zu und sagte: „Sehen wir nach, was sie uns noch zu bieten haben.“
In der Therme fühlte er sich etwas lächerlich zwischen all den Pärchen. Slavka sah toll aus, das nasse Haar stand ihr, die Figur war tadellos, sehr mädchenhaft, ihr Bikini zwar in einem unvorteilhaften Pistache, da sie fast krankhaft blass war, doch ohne Schnickschnack, und sie füllte ihn schön aus. Doch er selbst gefiel sich nicht, er kam sich plötzlich schmächtig vor und fehl am Platz. Er sah die mageren Jüngelchen, wie sie sich wichtig machten, und musste erkennen, dass er sich nicht von ihnen unterschied – nur dass die meisten zehn, zwölf Jahre jünger waren.
Wieder versuchte er, den Bad Boy zu spielen: Als sie nach der Sauna im Ruheraum lagen, neben einem dösenden Paar älteren Semesters, wollte er mit halb geöffnetem Bademantel demonstrieren, dass er einen Orgasmus haben konnte, ohne sich zu berühren. Slavka sah ihm kurz verwundert zu, fast gerührt, dann lachte sie schallend, beugte sich vor und küsste ihn wie einen Schuljungen auf die Nasenspitze. „Ich gehe ins Aussenbad“, sagte sie und stand auf. „Kommst du auch?“
Während sie sich fürs Abendessen stylten, teilten sie das Badezimmer – etwas, das Marc sonst strikt vermied. Doch Slavka hatte ihn gebeten, sich noch zu rasieren. „Nach dem Essen kommen wir nicht mehr dazu“, sagte sie entschuldigend, „und dann zerkratzt du mir den ganzen Körper, meine Haut ist doch so dünn.“ Währenddessen wusch und föhnte sie ihr Haar, dabei summte sie und schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Einmal nur, nachdem sie geschimpft hatte, wie spröde ihr Haar sei, lachte sie und erklärte: „Meine Mutter hat mir beigebracht, dass sich ein Mädchen nie vor seinem Mann schlecht machen sollte.“ Marc stellte fest, dass er errötete, die Bemerkung hatte ihn verwirrt, und er fragte sich, was sie damit bezwecken mochte. Doch Slavka schien nie etwas zu bezwecken, sie war, wie sie eben war. Er fand das mehr als sonderbar.
Beim Abendessen diskutierten sie lange über Gerechtigkeit und Recht. Soll alles, was möglich ist, auch erlaubt sein? Ist alles Erlaubte auch gut? Marc hatte noch nie so nachgedacht, er hatte nur Meinungen vertreten. Doch Slavka zwang ihn dazu, sie fragte immer wieder nach, bis er nervös wurde und das Gespräch abbrach.
Nach dem Essen stürzten sie doch nicht gleich ins Bett, wie Slavka es erwartet hatte, sie hatten sich überessen. Marc schlug einen Absacker in der Bar vor, doch Slavka spazierte lieber mit ihm durchs Dorf. Sie ging dem Bimmeln von Glöckchen nach, entdeckte in alten, niedrigen Ställen entlang der Strasse Ziegen und war begeistert. Während sie bei ihm einhakte und sie weiter schlenderten, erzählte sie ausführlich von den Ziegen in ihrem Heimatdorf, klärte ihn auf, wie man sie molk und wie man Käse machte. Marc sagte ihr nicht, dass er selbst aus einem Bauerndorf am Fuss des Säntis kam. Er hatte seine Familie auch seit zehn Jahren nicht mehr besucht, Slavka fuhr alle Weihnachten und Ostern heim, ausserdem zu den Geburtstagen ihrer Eltern und ihrer kleinen Schwester.
„Mit einem solchen Zeitmanagement wirst du keine Karriere machen“, stellte er fest, um auch wieder mal etwas zu sagen, worauf Slavka ihn ansah, als hätte sie einen so dummen Satz nicht von ihm erwartet, und gingen sie bis zur oberen Brücke über den Rhein, am Ende des Dorfs. „Wenn ich erst verheiratet bin und eine grössere Wohnung habe, kommt natürlich die Familie zu mir“, sagte sie, während sie kehrt machte, ohne ihn zu fragen. „Aber momentan ist es einfacher so, und natürlich billiger.“
Marc hatte noch nie mit einer Frau Sex gehabt, wie sie miteinander Sex hatten. Slavka war auch nackt ganz ohne Scham, sie wollte ihn und nahm sich, was sie wollte, gleichzeitig war sie seltsam absichtslos. Über Stunden lagen sie beieinander, ohne dass sie oder er zum Höhepunkt gekommen wären, gelegentlich drang Marc in sie ein, doch oft küssten sie sich nur, und immer wieder lagen sie auch einfach da, sahen einander an oder blickten zur Decke und fühlten, wie ihre Körper aneinander lagen. Irgendwann kam Slavka doch, mit einem kleinen Seufzer, danach lachte sie und sagte: „Das hatte ich so gar nicht gewollt.“ Danach bestand sie aber darauf, dass auch Marc einen Orgasmus hatte. Ihn selbst drängte gerade nichts dazu, doch sie wollte ihm zusehen, wenn er kam. „Ich will sehen, wie du ein bisschen stirbst“, nannte sie das, schob ihm alle vier Kopfkissen unter den Nacken, damit sie seinen Blick sah, und nahm seinen Penis in den Mund. Nachdem er gekommen war, schloss sie beide Hände um sein Glied, als halte sie ein Vögelchen, dann legte sie den Kopf auf Marcs Schenkel, kauerte sich zusammen und schlief so ein.
Die Nacht wurde ihm sehr lang. Sie hatten die Vorhänge geöffnet, der Mond schien hell auf den Berghang gegenüber. Marc lag die ganze Nacht wie aufgebahrt, doch er fürchtete Slavka zu wecken, wenn er es sich bequemer machte, und sie rührte sich nicht. Nackt, unbedeckt lag sie auf dem Laken, nur ihre Rippen spreizten sich bei jedem Atemzug, und eine Haarsträhne waren ihr übers Gesicht gerutscht und zitterte. Als er sich fragte, was geschehen war, stellte er fest, dass er noch nie mit einer Frau zusammen gewesen war, ohne sich verstellen zu müssen, ohne sich seiner zu schämen. Der eine Tag mit Slavka hatte genügt, und er begriff schon nicht mehr, was ihn an seinem bisherigen Leben gereizt hatte. Er schämte sich für seine Angeberei, und ganz vergeblich suchte er nach etwas, auf das er stolz sein konnte. Und doch fühlte er sich in nicht klein und lächerlich, eher kam er sich vor wie frisch geschlüpft – und was da geschlüpft war, mochte er gut leiden.
Allerdings gehörte zum Schlüpfen auch, dass er die alte Schale abstiess, und das kostete ihn noch Überwindung. Es war schon fast fünf Uhr früh, als er sich zaghaft solange bewegte, bis Slavka sich im Schlaf zur Seite drehte und seinen Schenkel frei gab. Er gönnte sich noch einige Minuten, um sie zu betrachten, dann stand er auf, zog sich an, nahm sein Gepäck und ging nach unten. Er bat den Nachtportier, die Polizei zu rufen, der Portier sah ihn verwundert an, doch Marc schien zu wissen, was er wollte, also fragte er nichts weiter und griff zum Hörer. Der Dorfpolizist wollte allerdings einen guten Grund hören, weshalb er um diese Zeit ausrücken sollte.
„Ich habe Gelder veruntreut, Kundengelder“, sagte Marc. „Nichts, was ich nicht gerade biegen könnte. Doch es handelt es sich um eine siebenstellige Summe, und ich habe das Gesetz gebrochen.“
Der Portier sprach mit dem Polizisten. „Er fragt, wo Sie wohnhaft sind“, richtete er danach aus, Marc sagte es ihm. „Und warum Sie sich nicht in Zürich der Polizei stellen.“
„Ich fürchte“, antwortete Marc, „wenn ich erst wieder zuhause bin, überlege ich es mir anders.“
Der Dorfpolizist versprach endlich zu kommen, in der Zwischenzeit liess Marc das Hotelzimmer auf Slavkas Namen überschreiben, buchte auf seinen Namen ein anderes und brachte seine Tasche hinauf, „Für den Fall, dass das Zimmer durchsucht wird“, erklärte er dem Portier, als er zurückkam. „Sorgen Sie bitte dafür, dass Slavka ausschlafen kann. Sie schläft gerade so schön.“ *
Copyright: Tim Krohn