Linard Nicolay, Plastiken und Skulpturen 2011-2015
Notiz zum Besuch einer Ausstellung.
Wenn einer eine volle Bassstimme besitzt und damit dem Quartett – ihr wisst welches – jeweils den nötigen stimmlichen Untergrund für einen soliden Auftritt besorgt, ist das noch keine Garantie dafür, dass er als Plastiker und Bildhauer nicht doch jodelnde Gartenzwerge neben farbigen Kühen mit treuherzigen Augen und dergleichen produzieren und ausstellen könnte, dazu auch eine Galerie fände, sogar eine begeisterte Käuferschaft und damit Anerkennung in der Szene und beim Publikum – anything goes!
Nichts hindert einen, den direkten Augenschein vorzunehmen. Also los! Es ist der 30. August, die Nachmittagssonne brennt, der Sonntag ist wolkenlos und Murg liegt am Walensee, mit voller Aussicht auf die gezackten und jetzt leuchtenden Churfirsten vor tiefblauem Himmel.
Linard Nicolay, Plastiken und Skulpturen 2011-2015
Im und ums Gebäude der alten Spinnerei von Murg gibt es, seit dem Umbau der Fabrik, Raum für kulturelle und künstlerische Anlässe, die “seekultour”. Sie ist getragen von einem gemeinnützigen Verein mit Andrin Schütz als Kurator. Diesen Raum besuchen wir. Zuerst die Aussenanlage mit Garten und Sitzplattformen, danach den Saal im Erdgeschoss rechts neben der Lofthotel-Reception. Schliesslich spazieren wir gefahrlos (die Autos blochen im Berginnern) zur Sagibeiz am Seeufer, wo weitere Skulpturen stehen und wir uns ein Glas genehmigen.
In der Ausstellung verblüffen zwei sehr unterschiedliche Skulpturen-Gruppen: Hier die drei hüfthohen Steinquader mit der weiter hinten stehenden schlanken Steinbrettsäule. Sie stehen gleichsam für das Massive und Unverrückbare. Erkennbar und ursprünglich: Der Stein, an den man sich lehnen kann, auf den man sitzen könnte. Der Künstler hat an den Steinen eine minimal anmutende, doch aufwendige Bearbeitung mit Hammer und Meissel vorgenommen und die Oberflächen mit feinen Linien überzogen und gemustert. Regenwasser, Staub, Flechten, Moos und Pilze werden mit der Zeit zweifellos seine Verbündeten – und seine Absicht verstärken, sie verändern. Gerne würde ich deshalb den Objekten in 20 Jahren wieder begegnen.
Die Werke der anderen Gruppe sind in den letzten zwei Jahren entstanden und muten wie Kontrapunkte zu den Steinen an. Es sind leichte und luftige Gebilde aus Dutzenden, ja Hunderten von schmalen, gebogenen, kürzeren und längeren Eisenbändern. Als müsste der Künstler die Heisenbergsche Unschärfenrelation plastisch umsetzen, hat er die Bänder an wenigen Punkten zusammengeschweisst und ihnen die Freiheit belassen, luftig zu beginnen und luftig zu enden. Oder, im Verbund mit anderen, einen weiterführenden und aufstrebenden Strang zu versuchen, der vielleicht zum Eiffelturm, zu Tangotanzenden, zum sich aufbäumenden Fabeltier führen könnte. Richtigerweise sind diese Konstruktionen nur nummeriert und ‘ohne Titel’. Die Besucher projizieren ohne Mühe hinein, was sie sehen wollen. Alles ist in Bewegung, erscheint oft in einem prekären Gleichgewicht, könnte weiter wachsen oder auseinanderfallen. Niemandem käme es in den Sinn, sich hier anzulehnen oder draufsitzen zu wollen … In ihrer unvorhersehbaren Dynamik sind diese Eisenplastiken richtige Assoziationsmaschinen. Ich würde sie gerne im strengen Winter sehen, im Schnee, wo sie sich nicht mehr von windbewegtem Laub und Buschwerk abheben müssten und sich im grauweiss erstarrten Raum wieder anders, neu, ungeschützter aber auch dominanter präsentieren würden. Würde ich, einem primären Impuls folgend, jetzt einem von ihnen meinen Schal umhängen, wäre ich ein Kitschbruder.
“Einen starken Gegenpol zu der Beliebigkeit der aktuellen Kunstwelt bildet das Werk des 1966 geborenen Bündner Bildhauers und Plastikers Linard Nicolay”, schreibt Andrin Schütz im Ausstellungskatalog. Dem kann ich nichts beifügen.
Zürich, 150930 – Jean-Pierre Wolf