Kommentar zur Gemeindeversammlung vom 25. Nov. 2016

Grossartig! – Endlich wieder eine richtige Gemeindeversammlung, ging es dem stillen Beobachter auf der zu seinem Erstaunen dicht belegten Empore durch den Kopf, als er in die Valser Turnhalle blickte. Sie war bis auf den letzten Platz besetzt. Ja, auch im Vorraum bei der Treppe standen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger, die drinnen nicht mehr Platz gefunden hatten. Mobilisiert waren sie nicht durch das Budget und die Abstimmung zum Steuerfuss 2017, nicht durch zu fassende Beschlüsse über Beiträge an das Bildungszentrum Surselva und das Gymnasium des Klosters Disentis und auch nicht durch das Gesuch des Valser Elektrizitätswerks an die Gemeinde um eine Bürgschaft von 2,5 Millionen. Diese Geschäfte glitten wie geölt durch die Abstimmungsmaschine: Allesamt genehmigt! – Die erwartungsvolle, knisternde Stimmung galt einzig dem Parc Adula. Denn hier würden Chancen und Risiken abgewogen, Weichen gestellt, Abrechnungen vorgenommen, Köpfe rollen – die Freiheit musste siegen. Auch die meisten meiner Valser Freunde exponierten sich gegen den Park.

Die Diskussion des Geschäfts hatte Niveau, auch rhetorisches. Befürworter und Gegner legten ihre guten Argumente dar. Ganz eindeutig präsentierte sich die Lage nicht. War es eine Chance, mit 16 weiteren Gemeinden den regionalen Raum nachhaltig zu gestalten? Oder würde ein Bundesvogt über alle Köpfe hinweg darüber bestimmen? Würden Tourismus und Gewerbe von einer grösseren Wertschöpfung profitieren? Oder sollten sie sich auf ihre eigene Kraft und den Wettbewerb untereinander verlassen? Sollte man für zehn Jahre auf das Experiment eingehen? Oder wäre das nur der Trick für eine ewige Bindung? Würde man weiterhin frei durch das Gebirge streichen können? Oder sich am Ende in einem Dschungel von Reglementierungen verlieren? – Und jetzt, Achtung: Könnte der einsame Wolkenkratzer noch gebaut werden? Oder würden ‚die Grünen‘ Einsprache erheben können – und wenn möglich vor dem Bundesgericht Recht bekommen[1]?

Diesen letzten Aspekt bedenkend, könnten einige Park-Gegner ihre Meinung ändern, dachte ich. Doch nein, das Abstimmungsergebnis war mit 81 Prozent Nein-Stimmen eindeutig und richtungsweisend für nachfolgende Abstimmungen in Nachbargemeinden.

Zwei Feststellungen drängten sich nach dieser Gemeindeversammlung auf. Erstens: In ihrer Gegnerschaft zum Adula-Projekt hatten die in Bezug auf die Dorfentwicklung uneinigen Parteien – mit unterschiedlichen Vorzeichen – ein gleiches Ziel. Wer letztlich mehr Vorteile aus diesem Entscheid zieht, wird die Zukunft zeigen.

Zweitens: Der amtierende Gemeinderat darf mit den Abstimmungsergebnissen der letzten Jahre zufrieden sein. Seine Anträge werden durchgehend  gutgeheissen. Es wäre allerdings nicht zum Schaden der Gemeinde, wenn die Stimmberechtigten wie auch die Geschäftsprüfer wichtige Geschäfte unabhängiger und kritischer prüfen und bewerten würden[2]. Der stille Beobachter denkt beispielsweise an die ohne Not erfolgte Umwandlung der Elektrizitätsversorgung von einem gemeindeeigenen Regiebetrieb in eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt, im September 2013. Wo liegt der Gewinn für die Gemeinde und Strombezüger?

Beim Verlassen der Turnhalle und in der etwas aufgekratzten Stimmung der Herumstehenden dachte ich unvermittelt an eine Episode vor Jahren im malischen Sahel. „Verdammt, wo bleibt das Dorf?“, hatte Dangui Sissoko gefragt. „Eigentlich müssten wir es schon erreicht haben“, meinte Moussa Keita. Das Team – Pflanzenbauer, Veterinär, Ökonom und Soziologe – hoppelte im hart gefederten Landrover über abgeerntete Sorgho-Felder. Das Dorf stand noch am selben Ort. Jedoch, der kahle, baum- und buschlose Ring um das Dorf herum, hatte sich in erschreckender Weise vergrössert. Einige Jahre extremer Dürre, anfangs der 1970er Jahre, hatten im westafrikanischen Sahel die Herrschaftsverhältnisse arg durcheinandergebracht. Die Viehhalter waren verarmt. Die Ackerbauern hingegen, die bisher oft in Abhängigkeitsverhältnissen zu den Viehaltern standen, hatten Oberwasser bekommen. Insgesamt war die Situation instabil, der Zustand und der Zugang zu den natürlichen Ressourcen für alle Gruppen prekär. Man war sich einig, dass alles getan werden müsse zum Schutz der bestehenden Vegetation und zum Wiederaufbau einer funktionierenden Weidewirtschaft. Doch hier war das Gegenteil geschehen. Der abgeholzte Gürtel um das Dorf war seit unserem letzten Besuch bedeutend grösser geworden. Anscheinend mochte sich in den Gemeinden niemand für den Schutz von Gehölz engagieren. Bei langen Gesprächen, abends, beim Teetrinken, schälte sich der Kern des seltsamen Verhaltens heraus: Brennholz brauchten alle Familien. Es war knapp und immer schwieriger zu beschaffen. Es setzte ein richtiger Run mit fatalen Folgen ein. Wer holzt als erster das nächste Bäumchen ab? Wir oder sie? – Gewonnen hatte, wer der schnellere war. Die Entscheidungsträger im Dorf sahen sich offenbar ausserstande, dem schädlichen Treiben Grenzen zu setzen oder sie waren selber daran beteiligt. – Nun, liebe Leserin, lieber Leser, zum Glück leben wir hier nicht in solch lamentablen Verhältnissen und der Klimawandel betrifft Vals und die Region nicht. Oder doch?

Zum Abschluss, wie immer:
Die Therme gehört dem Dorf,
der Wolkenkratzer nach Dubai – Basta!

161202 Jean-Pierre Wolf

Das hier Veröffentlichte entspricht der Meinung des Autors und deckt sich nicht notwendigerweise mit der Meinung des Vorstands und Vereins.

 

[1] Verblüfft vernahm der stille Beobachter auf der Empore die Kritik des Gemeindepräsidenten an einem Bundesgerichtsentscheid, der einer Klage der Umweltverbände Recht gab.

[2] Siehe auch Kommentar zur Gemeindeversammlung: „Licht in das Dunkel der Gemeindeversammlung“ (Juni 2016)