Kommentar zur Gemeindeversammlung vom 13. Dezember 2019
Die Traktandenliste ist unspektakulär wie immer. Nichts deutet auf eine dramatische politische Zuspitzung hin. Es scheint, es sei keine hitzige Debatte zu befürchten; kein lauter Stosstrupp werde den Gang der Dinge stören; kein schwarzbärtiger Senn, verbittert und betrunken, grölend die ‘da oben’ beschimpfen; keine Gruppe von Schülerinnen und Schülern den Eingang zur Valser Turnhalle mit «Wir sind frech, wir sind laut, weil man uns die Zukunft klaut» blockieren; keine entschlossene Frauengruppe in einer vorgeschalteten Medienkonferenz das «Me Too» reklamieren; auch niemand aus dem über 100-jährigen Paramentenverein mehr männliche Beteiligung beim Waschen, Flicken, Bügeln und Pflegen der Messegewänder einfordern[1]; auch keine Sympathisantinnen von Regula Rytz, die Zeit für eine lange Erklärung zum Ende der Zauberformel im Bundesbern beantragen … In der Tat, derlei Zuspitzungen gibt es an diesem Freitagabend nicht, auch wenn die eine oder der andere von euch, liebe Leserinnen und Leser (und vielleicht auch einige der in der Turnhalle Anwesenden), sich das womöglich erträumt oder gar erwünscht hätte. Nein, es ist wirklich ruhig und die Versammlung verläuft ohne Tief- oder Höhepunkte, im einfachen Singsang des Gemeindepräsidenten, der die Budgetposten mit grösseren Variationen im Vergleich zum Vorjahr kommentiert.
Es sind 45 Stimmberechtigte anwesend. Wenige! Dazu am Schluss des Kommentars noch einige Überlegungen. Ist diese schwache Beteiligung noch repräsentativ? Diese Frage stellen sich die Politikwissenschaften regelmässig, wenn sie Gemeindeversammlungen beobachten[2]. Die schwache Beteiligung ist verbreitet, wenn nicht gerade ein emotionsgeladenes Geschäft mobilisiert wie Einbürgerungen oder Steuererhöhungen. Als problematisch erweist sich zudem oft die einseitige Zusammensetzung der Anwesenden. Junge Leute, Frauen und Neuzuzüger sind meistens wenig präsent im Vergleich zu den Alten, Männern, Alteingesessenen und Wohnungseigentümern[3]. Dies mag auch ein Grund sein, dass nur sehr wenige (gegen 2%) der von den Gemeinderäten präsentierten Vorlagen in der Gemeindeversammlung abgelehnt werden[4]. Das Lob auf die Gemeindeversammlung, wo Bürgerinnen und Bürger sich lebendig beteiligten, umstrittene Geschäfte heftig kommentierten und auch zurückweisen würden, ist in Bezug auf Vals kaum angebracht. Es geht an diesem Abend emotionslos zu und her und alle Anträge des Gemeindepräsidenten werden ohne Gegenstimmen angenommen. Allerdings: Es gibt drei Fragen. Eine – mehr formeller Natur – zur Darstellung des Schulbudgets. Eine kritische, unter Verschiedenes, zum Gebrauch von Beton beim Bau der MZH: zu viel, nach Meinung des Fragestellers. Eine dritte, unter Verschiedenes, zum Abfall-Management der Gemeinde.
Das Hauptgeschäft an jener Versammlung sind das Gemeindebudget, die Erfolgs- und Investitionsrechnung. Das ist, könnte man meinen, eigentlich ein Schlüsseltraktandum im Leben einer Gemeinde. Doch in Vals ist das Interesse offensichtlich gering. Die Präsentation des Budgets ist solide, die Darstellung entspricht kantonalen Vorgaben. Sie enthält rund 500 Positionen. Man könnte sich in Einzelheiten verlieren. Mich hätte, zum Beispiel, der Vorgang bei der Rückverteilung der CO2-Abgabe interessiert. Oder, die Finanzierung des Beitrags an den Dorfbus, immerhin 71‘000 Fr. Oder, welche Maulwürfe mit der Maulwurfprämie prämiert werden (;-), die im Vergleich zur Rechnung 2019 tief budgetiert worden ist? Und so fort. – Jedoch, den anwesenden Stimmberechtigten scheint das alles klar oder zumindest unverdächtig und es werden keine Fragen dazu gestellt. «Die Gemeindefinanzen sind gesund», lautet das Fazit des Gemeindepräsidenten. Das Budget, es sieht einen Überschuss von einer Viertelmillion vor, wird genehmigt, ebenso der unveränderte Steuerfuss sowie die ausführlich geschilderte Leistungsvereinbarung zur Unterstützung des Gymnasiums in Disentis.
Auch die Mitteilungen unter Verschiedenes sind eher erfreulich. Der Valser Fonds, gespeist durch Abgaben auf den Mineralwasser-Verkauf, hat in den letzten sieben Jahren mit rund 610‘000 Franken Beiträge an unterschiedlichste Projekte geleistet – Kapellensanierungen, Fussballplatz, Musikgesellschaft, Jodelchor, Fritz-Hauser-Konzert, Kräuter-Märchen-Spaziergänge, Trockenmauern, Kultur am Montag usw. Dafür gibt es Applaus. Dann kommt die kurze Mitteilung des Gemeindepräsidenten zum Stand der Therme-Stiftung: Es gibt keinen Fortschritt! Der Stiftungsvertrag ist bisher von Stoffel nicht unterschrieben. Es würden Gerüchte herumgeboten, Stoffel wolle die Therme schnell an neue Interessenten verkaufen. Davon sei nichts zu halten und zudem müsste sich auch ein neuer Besitzer an die bisherigen Abmachungen halten, die mit der Gemeinde getroffen worden seien, meint der Gemeindepräsident. Diese Information, bei der Alarmglocken läuten könnten, scheint keine Unruhe auszulösen und die Gemeindeversammlung wird um 22 Uhr aufgelöst.
Die Beteiligung war an dieser Gemeindeversammlung für Valser Verhältnisse sehr gering, liess ich mir von einer Kennerin sagen. Für das Desinteresse gibt es sicher mehrere Erklärungsversuche, etwa das Vertrauen in die Behörde («die machen es wohl schon richtig»), die Resignation («ich habe sowieso keinen Einfluss auf den Gang der Dinge»), Abwarten («der Moment ist ungünstig für aktives Mitmachen») oder Lustlosigkeit («lieber eine Netflix-Serie als sich langweilen»). Ich stelle mir vor, die Stimmungslage unter den Menschen in Vals ist nicht gerade einfach. Die Fixierung auf den Tourismus und – trotz wachsender Unsicherheiten – besonders auf den Wintertourismus als «raison d’être» für Vals; der dabei vollzogene Schwenker auf eine riskante Angebotsorientierung; die fortlaufenden Unwägbarkeiten in Bezug auf den Zugang zur «verschenkten» Therme; das Geschwurbel um eine Kunstzone in einer «Überlagerungszone»; gleichzeitig die Vernichtung historischer Bausubstanz; die Hemmung, über den Klimawandel zu reden und über die Verpflichtung, in allen kommunalen Projekten den CO2-Ausstoss zu überprüfen, respektive zu senken; der Unwille, sich überkommunal zu verorten und zu koordinieren, um nur einiges zu nennen – ja, was soll man da tun? Wo sich engagieren, ohne Schaden zu nehmen? Kommt dazu, dass das «Valser Siedlungsgebiet» sich immer mehr ausweitet (mein Hobby sind Valser*innen in Argentinien). Zu begründen, wer dazu gehört, wer nicht, braucht einiges an Vorstellungsvermögen. Diese widersprüchliche, vielschichtige, dynamische und nicht leicht überschaubare Gemengelage mag dazu beitragen, dass Stimmberechtigte den Gang in die Valser Turnhalle als nicht prioritär, unnütz oder lästig empfinden und unterlassen.
Und, noch ist er gültig, der Spruch:
Die Therme gehört dem Dorf, der Wolkenkratzer nach Dubai! Basta!
Jean-Pierre Wolf, Vals, 19.12.19
[1] Pfarrer M. A. Hauser: «Ein wichtiger Grund für den Reichtum an Paramente ist, dass Vals die «Kultur-Revolution» in den 60er-Jahren zum Glück unbeschadet überlebt hat. Die alten Paramente wurden nicht zerstört.» (katholisches medienzentrum, 19.08.2014)!
[2] Zum Beispiel Philippe E. Rochat in seiner kürzlich veröffentlichten Studie über Gemeindeversammlungen im Kanton Aargau (2019).
[3] S. Erich Aschwanden, Ein Hoch auf die Demokratie in der Turnhalle (NZZ 20.12.2019).
[4] Philippe E. Rochat (Aargau, 2019). In Vals ist überhaupt keine der in den letzten Jahren vorgelegten Vorlagen abgelehnt worden.